Witten – ein Narrenhaus?

Manchmal hat mensch das Gefühl, sich in Witten in einem Narrenhaus zu befinden. Jetzt hat also das Verwaltungsgericht Arnsberg geurteilt, der Rat hätte am 3.2.20 nicht beschließen dürfen, dass das Bürgerbegehren gegen die Bebauung des Kornmarkts unzulässig sei. Ein solcher Beschluss hätte erst nach Vorlage der Unterschriftenlisten erfolgen dürfen (WAZ-Online 6.5.20: Kornmarkt_ Gericht kippt Ratsbeschluss zu Bürgerbegehren). Hier noch einmal die damalige Beschlussvorlage: Vorlage.

Ich frage mich, was dieses Urteil soll, denn es stellt – abgesehen vom „dürfen“ – nur eine Selbstverständlichkeit fest. Warum selbstverständlich? Weil selbstverständlich über die Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens abschließend nur entschieden werden kann, wenn dieses vorliegt, was das Vorliegen einer Unterschriftensammlung impliziert. Das Gericht ist offenbar davon ausgegangen, der Rat habe mit seinem Beschluss versucht, das Bürgerbegehren frühzeitig zu unterbinden. Derartiges ging und geht natürlich nicht.

Ich selbst habe dem Beschluss zugestimmt, nicht um eine Begehren zu unterbinden, sondern um frühzeitig potentiell Listen Unterschreibenden klar zu machen, dass das Begehren als kassatorisches Begehren wegen Verfristung oder als initiierendes Begehren wegen Vorspiegelung eines initiierenden Charakters und damit als Fake unzulässig ist. Es hätte also bei Vorlage von Unterschriften mit Sicherheit für unzulässig erklärt werden müssen. Siehe dazu meine Beiträge zum Formalen: „Klage gegen Unzulässigkeit: Bärendienst?“/3.3.20 und zum Inhaltlichen: „Kornmarkt: Zu Recht abgelehnt – Nachschlag“/27.9.19.

Das Urteil ändert daran nichts, weil es auf die grundsätzliche Zulässigkeit* gar nicht abhebt, sondern nur auf den Zeitpunkt des Ratsbeschlusses. Der Rat soll also einem in jeder Hinsicht formal unzulässigem Begehren zuschauen müssen, ohne sich aufklärend in seiner besonderen Verantwortung für die Bürger_innen positionieren zu können (Denn um mehr als eine Positionierung konnte es sich bei dem Beschluss nicht handeln)? Das ist doch schlichter Kappes.

Und die Initiative/Vertretungsberechtigten? Im WAZ-Artikel jubelt die Initiative, sie habe gewonnen und könne jetzt mit der Unterschriftensammlung beginnen.

Lenin wird folgendes Zitat zugeschrieben: „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“ Auf die Bahnsteigkarte, sprich das Verwaltungsgerichtsurteil, scheint die Initiative gewartet zu haben. Das ist doch wahre staatsbürgerliche Anstelligkeit! Dabei hätten die Initiative/Vertretungsberechtigten schon längst – unabhängig von einem Ratsbeschluss – Unterschriften sammeln können. Schließlich gibt es mittlerweile Beratung und Muster für korrekte Unterschriftenformulare genug, und – um es zu wiederholen – der Rat hätte eine solche Sammlung zu keinem Zeitpunkt vor Vorlage der Unterschriften weder verbieten noch unterbinden können (s.o.). Der Beginn einer Unterschriftensammlung (wegen der Frist bis zur Abgabe der Unterschriftenlisten!) muss der Verwaltung nur angezeigt werden.

Auch von einem „Gewonnen haben“ kann nicht die Rede sein, weil die Frist (ca. 5000 Unterschriften in 3 Monaten) sich nur verschoben hat. Ich gehe davon aus, dass dann die Unzulässigkeit – legal korrekt – definitiv festgestellt werden wird. Erst wenn dies nicht der Fall wäre, hätte die Initiative gewonnen – wenn sie den anschließenden Bürgerentscheid für sich entscheiden könnte.

Natürlich sollten Bürgerbegehren politisch ernst genommen werden, wie Herr Augstein-Peschel im WAZ-Kommentar schreibt** (WAZ-Online 6.5.20: Witten_ Politik sollte Bürgerbegehren ernster nehmen). Nur heißt das für mich nicht, dass jeder Uninn ernst genommen werden muss, der als Bürgerbeghren daher kommt. Unsinn ernst nehmen darf auch gerade der Rat nicht – im Interesse ihrer Bürger_innen.

*Um ein Missverständnis zu korrigieren: Nach Vorlage der hinreichenden Zahl von korrekten Unterschriften hat der Rat nicht inhaltlich über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens zu entscheiden, sondern nur über dessen formale Zulässigkeit. Wenn diese gegeben ist, kommt es – daran sei erinnert – zu einem Bürgerentscheid, also einer stadtweiten Abstimmung über das Anliegen des Begehrens.

**Herr Augstein-Peschel liegt übrigens falsch, wenn er polemisch fragt, wann die Stadt jemals ein Bürgerbegehren* für zulässig erklärt habe. Abgesehen, dass nicht die Stadt „erklärt“, sondern der Rat über die Zulässigkeit entscheidet: Ich selbst habe an sechs Bürgerbegehren mitgewirkt – entweder aktiv und/oder durch beratende Unterstützung.

Davon waren drei zumindest als Begehren erfolgreich: Das Begehren gegen den Rathausanbau 1997, dass sogar mit einem für die Initiative gewonnene Bürgerentscheid endete (siehe dazu mein Beitrag „Wer spielt hier mit falschen Karten?„/9.2.16), das Begehren gegen die Ansiedlung von Lidl im Herbeder Gerberviertel 2004 (Lidl ist nicht angesiedelt worden, dafür gab’s dann Jahre später nach einem erneuten, leider 2012 „verhungerten“ – nicht genügend Unterschriften! – Bürgerbegehren Edeka) und das Bürgerbegehren gegen die Verlagerung des Standorts der Stadtbücherei 2011 (Die Abstimmung über die Zulässigkeit wurde durch die sog. Bürgerwerkstatt umgangen).

An der Zulässigkeit gescheitert sind: Bürgerbegehren gegen die Schließung und den Abriss des Stadtbads 2002 (Ich war nicht beteiligt), Bürgerbegehren gegen die Verlagerung der Adolf-Reichwein-Realschule 2003 (Es wurden von der Stadt massenhaft Unterschriften gestrichen, deshalb war das Quorum nicht erreicht; eine anschließende Klage auf Neuauszählung wurde vom Verwaltungsgericht Arnsberg abgeschmettert), Bürgerbegehren gegen die Schließung der Durchholzer Grundschule 2007 (Bei der abschließenden Abstimmung über die Zulässigkeit gab es mit 30 zu 27 Stimmen eine äußerst knappe Mehrheit für die Unzulässigkeit).

Das alles hätte von Herrn Augstein-Peschel leicht recherchiert werden können.

*Zum Thema Bürgerbegehren siehe auch mein Beitrag „Bürgerbegehren/Bürgerentscheide in Witten – Höhen und Tiefen„/7.4.17.