„Neusprech“: Aus gut wird schlecht, aus schlecht wird gut
Kennen Sie „Neusprech“? Das ist ein Terminus aus Orwells Roman 1984 (dazu WikipediaA: „Neusprech (englisch Newspeak) heißt die sprachpolitisch umgestaltete Sprache in George Orwells dystopischem Roman 1984.“). Durch Neusprech wird alles verdreht: Aus gut wird schlecht, und aus schlecht wird gut. Ich habe den Eindruck, dass bei der Wittener Stadtverwaltung, in diesem Fall der planenden Verwaltung, der Neusprech zunehmend Raum greift. Ziel scheint zu sein, reale Probleme – z.B. die, die für die Stadt aus der sich verschärfenden Klimakrise erwachsen – nicht anzugehen, sondern terminologisch zu übertünchen. Ergebnis ist dann unter Umständen eine durch Neusprech getarnte Verschäfung der Problemlagen.
Nur ein Beispiel dafür ist der erneute geplante Flächenfraß an der Rigeikenstraße. Dort hat sich glücklicherweise innerhalb eines intakten Wohngebiets eine bedeutende Freifläche (Wiesenfläche) erhalten, die bisher diverse positive Funktionen für den Artenschutz, das Klima und das Wohnumfeld erfüllt: Artenvielfalt, klimatische Entlastung und sogar Freizeit- und Spielmöglichkeiten für die Kinder (Siehe dazu ein Anschreiben der Anwohner: Anschreiben Bewohner Am Brinkhof)
Aus meiner Sicht gehört die Bewahrung derartiger positiver Funktionen zur zentralen Aufgabe einer nachhaltigen Stadtentwicklung – u.a. vor dem Hintergrund der neuen Herausforderungen durch den Klimaschutz und die Notwendigkeit der Klimafolgenanpassung. Aber die Wittener Stadtplanung und eine große Mehrheit der Politik sahen das offenbar anders. Im ASU am 27.6.19 ist mit großer Mehrheit ein Aufstellungsbeschluss für ein B-Plan-Verfahren „Rigeikenstraße“ durchgewunken worden, mit dem der Bau von ca. 25 Wohneinheiten auf einer noch bestehenden Freifläche ermöglicht werden soll: Vorlage 1061 1061_V_16_Vorlage.
Und jetzt beginnt der „Neusprech“:
Grüne Mitte?
Die Idee einer „grünen Mitte“ ist gut – allerdings aus meiner Sicht nicht im Zusammenhang des Kornmarkts. Die Freunde einer Begrünung an dieser Stelle seien daran erinnert, dass es sich um das ehemalige Areal des zentralen Busbahnhofs handelt, und der Erlös aus dem Verkauf der städtischen Grundstücke zur Finanzierung des neuen zentralen Busbahnhofs (ZOB) am Hauptbahnhof eingeplant/festgelegt ist.
Viel wichtiger wäre doch eine irgendwie geartete Begrünung des öden, grauen, unattraktiven und Hitze abstrahlenden Rathausplatzes, z.B. über Baumkübel oder Urban Gardening als Attraktivierung und Beitrag zur Verbesserung des Mikroklimas in diesem Bereich.
Eine Begrünung sollte doch auch so möglich sein, dass sie dem Wochenmarkt nicht in die Quere kommt, sondern diesen sogar aufwertet. Das Grün müsste allerdings gepflegt werden – vielleicht über Patenschaften?
Wie das mit den Bäumen gehen könnte, zeigen Beispiele aus folgender Broschüre „streetlife baumprodukte“: https://issuu.com/streetli/docs/streetlife_catalogus_2016-2017_b_de.
Baumkübel wären übrigens auch ein Weg, Straßen mit Bäumen auszustatten, wo das normale Pflanzen von Bäumen aus technischen Gründen nicht möglich oder sehr aufwendig ist (siehe dazu die Antwort der Verwaltung auf eine Anfrage der SPD „Geschwindigkeitsreduzierungen durch Baumpflanzungen“: Geschwindigkeitsreduzierungen durch Baumpflanzungen)
Kornmarkt: Jetzt die bessere Variante
Jetzt ist er also abgesprungen, der hochgelobte 1. Preisträger (siehe dazu WAZ 27.6.19: „Verhandlungen mit dem Kornmarkt-Investor in Witten gescheitert“ Verhandlungen mit Kornmarkt-Investor in Witten gescheitert*). Ich habe damit keine Probleme, weil ich schon immer den jetzt zum Zuge kommenden 2. Preisträger bevorzugt habe (siehe dazu mein Beitrag „Bebauung Kornmarkt: Urbane Aufwertung des Ensembles Kornmarkt/Rathausplatz notwendig!“/1.3.18). Im Gegenteil, jetzt bin ich von einem Problem befreit: Beim bisherigen Verfahren stand ich bei jeder Abstimmung vor der Frage, ob ich zustimmen soll (weil ich prinzipiell für eine Bebauung des Kornmarkt war) oder nicht (weil ich die bisherige Konzeption nicht für angemessen hielt). Jetzt kann ich dem weiteren Verfahren vorbehaltlos zustimmen. Schade ist nur um die Verzögerung.
*Ich weiß nicht, woher Herr Augstein-Peschel in seinem Kommentar die „grüne Mitte“ hat. Auch beim 1. Preisträger war von eine „grünen Mitte“ nicht die Rede. Und mit dem Noch-Mal-Draufschauen (Augstein-Peschel) empfehle ich Zurückhaltung, um nicht noch mal einen Absprung zu riskieren. Schließlich hat der Stadtbaurat recht, wenn er darauf hinweist, dass sich der 2. Preisträger beim Investorenwettbewerb absolut auf Augenhöhe mit dem Siegerentwurf befand.
Wunschdenken
Ich reibe mir die Augen. Am 26.6.19 berichtet die WAZ („SPD und Bürgerforum: Kein Streit beim Klima“) über einen Brief des bürgerforums an die Wittener Partei- und Fraktionsvorsitzenden, in dem die „Klimafrage“ (Was ist das?) als ungeeignet für Parteikonflikte oder eine Verschiebung auf spätere Ratssitzungen bezeichnet wird. Jenseits aller Partei- und Gruppeninteressen gehe es darum, diese wichtige Menschheitsfrage „herunterzubrechen“ auf konkretes Handeln. Das bürgerforum habe beantragt, den Klimanotstand in den nächsten Ratssitzungen vordringlich zu behandeln (zu diesem sonderbaren Antrag siehe mein Beitrag „Farbe bekennen!“/23.6.19).
Ich frage mich, was das jetzt soll.
Erstens: Behandlung auf den „nächsten Ratssitzungen“ (Plural)? Auf der nächsten Ratssitzung am 2.7.19 steht die Angelegenheit Klimanotstand in Form von mehreren Anträgen (Grüne, Piraten, Linke) auf der Tagesordnung. Wenn denn der Klimanotstand als Reaktion auf eine zunehmende Klimakrise so vordringlich ist, sollte eine Entscheidung doch wohl möglichst schnell – und nicht erst auf den „nächsten Ratssitzungen“ – getroffen werden. Die Anträge der Grünen und Piraten sind seit langem bekannt und beschlussreif.
Zweitens: „Kein Streit“, „ungeeignet für Parteikonflikte“ und „jenseits aller Partei- und Gruppeninteressen“? Schön wär’s, wenn denn der Wegfall von Streit um die Klimakrise zu angemessenen und durchgreifenden Lösungen führen würde. Aber es dürfte doch auch jenseits des Wunschdenkens beim bürgerforum angekommen sein, dass das Klimaproblem zu heftigen politischen Auseinandersetzungen führt (überörtliches aktuelles Beispiel: möglichst schneller Ausstieg aus der Braunkohleförderung) – auch in Witten, wie die Reaktionen von CDU, FDP, WBG und „Solidarität für Witten“ auf den Vorstoß von Grünen und Piraten zeigen.
Denn ernst wird’s nicht bei wohlfeilen Bekenntnissen und Namensphantasien („Klimabündnis“), sondern beim wirksamen „Herunterbrechen“. Dann muss Farbe bekannt werden. (mehr …)
Farbe bekennen!
Am 21.6.19 stellen die Herren Dr. Kurt Martin Schmelzer (Fraktionsvorsitzender) und Harald Kahl (Ratsmitglied) im Namen der Fraktion bürgerforum folgenden Antrag: Änderungsantrag zum Antrag Grüne Klimanotstand
Ich werde diesem Antrag als Ratsmitglied nicht zustimmen, weil ich ihn für kontraproduktiv halte. Warum? Sehen wir uns Beschlussvorschlag und Begründung des Antrags genauer an.
– Formal: Der Antrag ist als Änderungsantrag deklariert, ist aber tatsächlich ein selbständiger Antrag. Als solcher steht er in Konkurrenz zu den Anträgen der Grünen und/oder der Piraten. Ich habe in meinen Beiträgen „Klimanotstand!„/11.6.19 und „Klimanotstand! – Nachschlag“/14.6.19 schon deutlich gemacht, dass ich beide Anträge unterstützen kann. In der Sache brauche ich keinen Zusatzantrag.
Inhaltlich:
– Mit dem Antrag soll der Rat die „Intentionen der Ausrufung des Klimanotstands“ „unterstützen“. „Intentionen“, „Ausrufung“, „Unterstützen“? Was soll das? Welche Intentionen sollen da und wie „unterstützt“ werden, und wer soll den Klimanotstand „ausrufen“? Etwa die Feuerwehr (Scherz beiseite)? Und soll er überhaupt ausgerufen oder nur seine „Intentionen“ unterstützt werden? Das alles verunklart die Formulierung.
Wenn denn nicht nur die „Intentionen“, sondern die Ausrufung des Klimanotstands unterstützt werden soll – was ich für richtig halte -, ist das einzige legitimierte und im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung zuständige Gremium, das in diesem Zusammenhang für die Verwaltung verbindliche und Verwaltungsmaßnahmen einleitende Beschlüsse fassen kann, der Rat der Stadt Witten. Angesichts der Dringlichkeit des Problems sollte er dies auch schleunigst tun, wenn sich eine entsprechende Mehrheit findet. Und wenn sich keine findet, sind diejenigen, die eine Mehrheit verhindern, für das Unterbleiben der Maßnahmen und die dann eintretenden Schäden politisch verantwortlich. Die Formulierung der Antragsteller ist leider z.B. gemessen am Antrag der Grünen reines Wischwaschi. (mehr …)
Klimanotstand! – Nachschlag
Ich habe in meinem Beitrag „Klimanotstand!“ geschrieben „Wie vermeldet wird, werden sich auch die Piraten der Resolution anschließen“. Der Fairness halber sei hier darauf hingewiesen, dass die Piraten in derselben Angelegenheit einen eigenen, auch guten Antrag eingebracht haben:
→ Antrag Piraten vom 4.6.19: PIRATEN Resolution zur Ausrufung des Klimanotstands unterstützen
Ich hoffe, dass sich beide Fraktionen auf einen gemeinsamen Antrag werden einigen können.
Aus gegebenem Anlass weise ich darauf hin, dass sich im (noch) geltenden Programm des bürgerforums folgende Passagen finden:
Kommunalwahlprogramm des bürgerforums:
„Für eine gesunde Umwelt
Witten braucht eine gesunde Umwelt. Auch in unserer Stadt ist durch falsche
Entscheidungen zur Klimaverschlechterung beigetragen worden. Durch Flächenfraß,
überflüssigen Landschaftsverbrauch, vermeidbare Luftbelastung, Vernachlässigung der
Stadthygiene ist die Umwelt geschädigt worden. Durchgreifende Maßnahmen zum Schutz
von Flora und Fauna sind bislang unterblieben oder nur unzureichend durchgeführt worden.
Andererseits hat unsere Stadt das Potential, durch systematische Pflege und Ausbau der
Umweltqualität und eine entsprechende Schwerpunktsetzung bei der Stadtentwicklung den
Bürgerinnen und Bürgern eine gesunde Umwelt zu bieten. Witten hat durch seine Lage am
südlichen Rand des Ruhrgebiets den großen Vorteil, eine grüne Ruhrgebietsstadt zu sein.
Dieser Vorteil darf nicht leichtfertig zerstört werden.
Deshalb werden wir:
alle kommunalen Initiativen zum Klimaschutz unterstützen; (mehr …)
Klimanotstand!
Am 5.6.19 beantragten die Grünen eine Resolution zum Klimanotstand, die im ASU/HFA/Rat beschlossen werden soll: Klimanotstand_46_V16
Die Resolution, die aus meiner Sicht in einzelnen Punkten auch Antragscharakter hat, ist gut und richtig, und ich werde auf jeden Fall für sie stimmen. Wie vermeldet wird, werden sich auch die Piraten der Resolution anschließen.
Hier nur eine Anmerkung zu Punkt 5 der Resolution: „Der Rat der Stadt Witten: 5. stellt fest, dass das im Jahr 2013 im integrierten Klimaschutzkonzept (IKSK) verabschiedete Ziel der Reduktion der CO2-Emission bis 2020 um 25% nicht nur zu gering ist, sondern auch mit den bisher vereinbarten Maßnahmen nicht erreicht werden kann. Die Verwaltung wird beauftragt, Maßnahmenvorschläge vorzulegen, die eine Erreichung der Ziele des Klimaschutzkonzepts sicherstellen.“
Es wird richtigerweise darauf hingewiesen, dass im Jahr 2013 – also vor ca. 6 Jahren! – der Wittener Rat ein integriertes Klimaschutzkonzept (IKSK) mit dem Ziel einer CO2-Reduktion bis 2020 um 25% verabschiedet hat*. Dieses Ziel sei zu gering und könne darüber hinaus mit den vereinbarten Maßnahmen nicht erreicht werden.
Instruktiv und wichtig wäre in diesem Zusammenhang eine Bilanz der Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen seit 2013. Die Resolution stellt nur schlicht fest, dass die 25% mit den vereinbarten Maßnahmen nicht erreicht werden konnten. Was ist den im Laufe der Jahre tatsächlich an Maßnahmen durchgeführt worden, um überhaupt 25% – die in der Resolution als zu gering qualifiziert werden – zu erreichen? (mehr …)
Grenzen der Grünen
Ich habe schon in meinem Beiträgen „ Europawahl – Witten: Grünste Stadt im Revier?“/29.5.19 darauf hingewiesen, dass der deutsche Grünen-Hype in Europa nur zu einem überschaubaren Anstieg der grünen Präsenz im Europaparlament geführt hat. Im Europaparlament ist das Ergebnis der Wahl eine konservative bis rechtspopulistische – und in diesem Fall europakritische – Mehrheit. Zu dieser Problematik habe ich im Internet zwei kluge Artikel gefunden, auf den ich hier verweise:
→ ZEIT ONLINE: Die Fronten sind geklärt Europawahl_ Die Fronten sind geklärt
→ DER TAGESSPIEGEL: Die Grenzen der Grünen Deutsche Eigenheiten nach der Europawahl_ Die Grenzen der Grünen
Insofern sind trotz aller Umfrage-Höhenflüge die deutschen Grünen mit Robert Habeck gut beraten, den Ball flach zu halten.