Putin: Niederlage Russlands im 1. Weltkrieg wegen eines „Dolchstoßes“?

Im Zusammenhang mit der Prigoschin-Revolte hielt Putin am 24.6.2023 eine Rede, in der er behauptete: „Genau dieser Schlag wurde 1917 ausgeführt, als das Land im ersten Weltkrieg war. Aber der Sieg wurde gestohlen. Intrigen und Streitereien hinter dem Rücken der Armee führten zur größten Katastrophe, zur Zerstörung der Armee und des Staates, zum Verlust riesiger Gebiete, was zu einer Tragödie und zum Bürgerkrieg führte“*.

Das ist natürlich ein nationalistischer Geschichtsmythos von diesmal russischer Seite und eine handfeste Geschichtsverdrehung**. Das zaristische Russland hat den Krieg nicht wegen eines „Dolchstoßes“ („Intrigen und Streitereien hinter dem Rücken der Armee“) verloren, sondern weil:

– der russische Zarismus und die ihm zugrunde liegende Produktionsweise durch und durch marode und auch schon vor dem Krieg von Krisen (1905 (!)***) geschüttelt war. Ein glänzend formulierte kurze Skizze der Lage im zaristischen Russland vor dem Krieg findet sich im 1. Kapitel von Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Erster Teil: Februarrevolution, Frankfurt 1982, S. 13 – 23: „Die Eigenarten der Entwicklung Russlands“, auch unter https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/index.htm;

– die russischen Armeen vor diesem Hintergrund technisch und organisatorisch nicht in der Lage waren, einen längeren großen Krieg durchzustehen. Ein gute Analyse findet sich op.cit., S. 24 – 37: „Das zaristische Russland im Kriege“, auch unter https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/index.htm;

– diese Armeen waren gegen Ende des Krieges in Auflösung begriffen. Die Soldaten wollten sich einfach nicht mehr zum Kanonenfutter machen lassen. Das Debakel der militärischen und zivilen Eliten führte zur Februar- und – weil die die Februarrevolution tragenden politischen Kräfte den Krieg nicht beenden wollten – schließlich zur Oktoberrevolution****.

Fazit: Kein „Dolchstoß“, sondern die Unfähigkeit des Zarismus zu Reform und Modernisierung haben zur Niederlage Russlands im 1. Weltkrieg geführt. Dieser „Modernisierungs-Lag“ ist dann mit Terror und schrecklichen Opfern unter Stalin aufgeholt worden (nachholende Industrialisierung) und hat wesentlich zur Niederlage der deutschen Wehrmacht gegen die Rote Armee und Sowjetunion im 2. Weltkrieg beigetragen***** .

*Siehe https://www.tagesspiegel.de/internationales/sie-haben-russland-verraten-und-werden-dafur-bezahlen-die-putin-rede-zum-wagner-aufstand-im-wortlaut-10040458.html.

**Derartige nationalistische Geschichtsverdrehungen sind bei Putin nicht neu. Siehe dazu mein Beitrag „Putin-Rede: Nationalistische Geschichtsverdrehungen“/24.2.22.

***Siehe dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Russische_Revolution_1905.

****Siehe dazu die Geschichte der Oktoberrevolution von einem aktiv Beteiligten, die mit dem Mythos eine rein bolschewistischen Machtergreifung aufräumt: Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Oktoberrevolution, 1933, auch unter https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/index.htm. Merke: Ohne Unterstützung der Massen (in diesem Fall Soldaten, Arbeiter und Bauern) keine erfolgreiche Revolution. Lenin formulierten einmal: „Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Revolutionäre_Situation).

*****Siehe dazu instruktiv: Richard Lorenz, Sozialgeschichte der Sowjetunion 1, 1917 – 1945, Frankfurt 1976, S. 261 – 275: „Die Wende im Kriegsverlauf“)