Fiktiver Bedarf an Wohneinheiten wichtiger als Umwelt und Klimaschutz?

Eigentlich sollte es sich mittlerweile herum gesprochen haben, dass in Städten zur Dämpfung der schädigenden Wirkung des Klimawandels (Extremwetterlagen: Hitze, Starkregen etc.) Erhalt und Schaffung von Freiflächen (Wiesen, Grabeland, Ackerflächen) dringend geboten sind*. Bei Ackerflächen und Grabeland kommt der Apekt einer wünschenswerten ökologischen und regionalen Nahrungsmittelproduktion hinzu, bei Grabeland auch noch eine soziale Komponente.

Was überhaupt nicht mehr gehen sollte, ist die Vernutzung von Flächen durch extensive Wohnbebauung und eine dadurch bedingte Versiegelung (neben anderen Vernutzungsvarianten).

In der Wittener Verwaltung und Politik scheint diese Problematik allerdings noch nicht angekommen zu sein. Dort wird ein fröhliches Weiter-So, drapiert mit einigen unverbindlichen Lippenbekenntnissen, betrieben. Aktuelles Beispiel: die Wohnbauflächenpotentialalayse. Was ist passiert?

Das Weiter-So beginnt 2018 mit der Verabschiedung des sog. Handlungskonzepts Wohnen. In diesem Konzept taucht die seitdem wie eine Monstranz von der Verwaltung vor sich her getragenen Einschätzung auf, bis zum Jahr 2030 müssten in Witten 1595 Wohneinheiten (u.a. Ein- und Zweifamilienhäuser) zusätzlich geschaffen werden, um den Bedarf abzudecken. Zu der Fehlinterpretation des Handlungskonzepts durch die Verwaltung habe ich schon mehrfach Stellung bezogen. Der unterstellte Bedarf existiert einfach nicht, weil die Einwohnerzahl Wittens kontinuierlich abnimmt**.

In Fortführung des Handlungskonzepts wird dann eine Wohnbauflächenpotentialanalyse in Auftrag gegeben, die am 9.6.22 dem ASUK (Ausschuss für Umwelt, Stadtentwicklung und Klima) zur Beschlussfassung vorliegt und dort „durchfällt“, wie die WAZ titelt***. Grund für das Durchfallen: Die Umweltbelange seien nicht hinreichend berücksichtigt.

Daraufhin wird die Analyse überarbeitet und soll als überarbeitet Version**** am 21.6.22 vom Rat beschlossen werden. Kurzfristig wird von einigen Fraktionen ein Änderungsantrag***** zur Verwaltungsvorlage quasi als Tischvorlage ergänzend zur Abstimmung vorgelegt und mit großer Mehrheit – verbunden mit wechselseitigen Schulterklopfen der antragstellenden Fraktionen – beschlossen.

Was ist davon zu halten? Sind die Umweltbelange, speziell der Klimaschutz, in der überarbeiteten Fassung der Analyse wirklich berücksichtigt worden, und vor allem: Stellt der Änderungsantrag eine Verbesserung der überarbeiteten Analyse dar? Sehen wir uns den Änderungsantrag genauer an.

Ich bewerte die vier Spiegelstriche des Antrags:

– Der erste Spiegelstrich enthält die gewünschte Festlegung auf eine „prioritäre Fokussierung“, was die Antragsteller_innen darunter auch immer verstanden haben. Diese Festlegung ist natürlich unverbindlich und folgenlos, weil ja die Stadt nicht baut, sondern – worauf die Verwaltung in ihrer Vorlage richtigerweise verweist – auf private Investoren angewiesen ist (Vorlage 0292/V 17, S. 5). Dieser Spiegelstrich schließt nichts aus. Im Übrigen können auch Baulücken für das innerstädtische Mikroklima wichtig sein.

– Das Letztere gilt auch für den zweiten Spiegelstrich.

– Wirklich interessant wird es beim dritten Spiegelstrich, weil hier der Eindruck einer Korrektur der Potentialanalyse vermittelt wird. Keine Versiegelung? Ich frage mich, welche Flächen durch die Festlegung im Antrag von einer – klimaschädlichen – Versiegelung ausgeschlossen werden und welche nicht (Meine Zählung berücksichtigt bewusst nicht die unterschiedlichen Eignungsbewertungen. Grund: Statement der Verwaltung in ihrer Vorlage, siehe ******).

Bei forstwirtschaftlichen Flächen dürfte ein Ausschluss von Versiegelung selbstverständlich sein und hätte nicht extra im Antrag erwähnt werden müssen.

Bei „landwirtschaftlich genutzten Flächen“ und „Ackerflächen“ sieht es wie folgt aus: Entscheidend ist im Antrag die Freistellung für Versiegelung im geltenden FNP (Flächennutzungsplan): Im Flächenpotential weist die Analyse 36 Flächen im geltenden FNP aus, davon bedürften 2 einer teilweisen FNP-Änderung. Von den 36 Flächen werden 7 Flächen als „landwirtschaftlich genutzt“ ausgewiesen, 9 Flächen als „Grünfläche/Wiese“, 7 Flächen als „Gärten“ und 6 Fächen als „Grabeland“ (4.3 der Potentialanalyse, S. 63). Zu diesen Flächen gehört auch der Zaunkönigweg!******* Es handelt sich um insgesamt 29 Flächen********.

Bei den 18 Potentialflächen im Außenbereich sind alle Fächen nicht im geltenden FNP ausgewiesen und können also dem Antrag entsprechend nicht versiegelt (heißt für mich: nicht bebaut) werden (5.3. der Potentialanalyse, S. 196).

Die den Antrag stellenden Fraktionen haben also keine Bedenken gehabt, 29 aus meiner Sicht für die Umwelt, den Klimaschutz und die Nahrungsmittelproduktion wertvollen Flächen – bei Grabeland kommt eine soziale Komponente hinzu – ohne Restriktion für die Versiegelung frei zu geben..

– Der vierte Spiegelstrich formuliert dann noch vollkommen Unverbindliches als Wunsch an die Verwaltung und ist bezogen auf die Potentialanalyse überflüssig.

Bei genauerem Hinsehen drängt sich daher der Eindruck auf, dass es sich bzgl. der Vermeidung von Versiegelung und verstärktem Klimaschutz im Antrag schlicht um Augenwischerei handelt, denn die Planung einer Wohnbebauung im Außenbereich (18 Potentialflächen im Außenbereich, die nicht im geltenden FNP ausgewiesen sind)  ist – abgesehen von sehr eingeschränkten Bedingungen – rein fiktiv********* , und die übrigen Flächen werden durch den Antrag zur Versiegelung frei gegeben.

Mein Fazit in Beantwortung der oben gestellten Fragen also: Eindeutig nein. Von Klimagerechtigkeit und verstärkter Berücksichtigung der Umweltbelange als immer wichtiger werdenden Aspekten der Stadtentwicklung findet sich in der überarbeiteten Fassung und im Änderungsantrag keine Spur, im Gegenteil!

Mir ist es deshalb ein Rätsel. was die den Antrag stellenden Fraktionen bewogen haben mag, sich auf die Schultern zu klopfen. Einem nachhaltigen Umwelt- und Klimaschutz in Witten haben sie jedenfalls mit ihrem Antrag einen Bärendienst erwiesen.

*Siehe: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/bauen/wohnen/gruenbuch-stadtgruen.pdf?__blob=publicationFile&v=3

**Siehe dazu mein Beitrag „Ausweisung neuer Wohnbauflächen?“/20.6.22.

***Siehe dazu mein Beitrag „Wohnbauflächenanalyse fällt durch“/14.6.22.

****Siehe: https://secure.stadt-witten.de/session/bis/getfile.asp?id=72120&type=do und Vorlage 0292/V 17: Vorlage.

*****Siehe Antrag WPA: Antrag_WPA.

******Vorlage 0292/V 17, S.4/5: „In der Gesamtschau sprechen die Gutachter die Empfehlung aus, zunächst vorrangig Flächen mit einer hohen und einer mittleren Eignung einer Wohnbauflächen-entwicklung zuzuführen. Hierdurch können insgesamt ca. 39 ha Nettowohnbaufläche realisiert werden. Der durch das HK Wohnen prognostizierte Bedarf von 45,3 ha bis zum Jahr 2030 kann somit durch die Entwicklung von Flächen mit hoher und mittlerer Eignung jedoch nicht komplett gedeckt werden. Daher sind auch Flächen mit einem schwächeren Bewertungsergebnis weiterhin als mögliche zukünftige Wohnbauentwicklungsflächen im Auge zu behalten.“ (Fettung von mir)

*******Siehe dazu mein Beitrag „Zwischen Zaunkönigweg und Hauptfriedhof: Neue Flächenversiegelung bitte nicht!“/5.3.21.

********Zur Zählung: Ich habe bei meiner Zählung nicht die Potentialflächen (Steckbriefe) gezählt, weil mich in erster Linie deren ausgewiesenen, noch vorhandene Qualitäten interessieren. Wenn also bei einer Potentialfläche z.B. „Grabeland“ und „Wiesen“ ausgewiesen worden sind, habe ich diese Qualitäten jeweils als Flächen gesondert gezählt.

*********Siehe dazu: https://www.kreis-guetersloh.de/themen/bauen-wohnen-immissionen/genehmigungsgrundlage/bauen-im-aussenbereich-35-baugb/.