Gorbatschow – der Anti-Putin?

Am 3.9.22 titelt der SPIEGEL in seiner Ausgabe 36 „Michael Gorbatschow/DER ANTI-PUTIN/Das tragische Vermächtnis eines Weltverbesserers“. Mensch hat den Eindruck, der SPIEGEL wolle suggerieren, die jetzige Haltung Putins gegenüber dem übrigen Europa (Russland bis zum Ural gehört nach meiner Auffassung zu Europa) und dem „Westen“ sei immer schon feststehend und von Gorbatschow abweichend gewesen.

Fakt ist aber, dass die jetzige Verfeindung zwischen Russland und dem „Westen“ ihre Geschichte hat – und die nicht erst seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Gorbatschow hatte die Vision eines „gemeinsamen Hauses Europa“ unter Einschluss Russlands*. Die Realisierung dieser ausgesprochen vernünftigen Vision hätte zu einer erheblichen geopolitischen Stärkung Europas geführt.

Dass diese Vision schon im Keim konterkariert worden ist, ist nicht auf die „bösen Russen“ und den „bösen Putin“ zurück zu führen (Ich erinnere an den ersten Auftritt Putins vor dem Bundestag 2001: https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966), sondern auf ein gegenläufiges geopolitisches Interesse der USA, die weder an einer Stärkung Russlands noch an einem starken unabhängigen geopolitischen Player und Konkurrenten Europa interessiert waren (und sind).

„Spalte und herrsche“ war schon immer eine Maxime des Imperiums USA, um die eigene Hegemonie zu sichern**. Dabei war die NATO und die NATO-Erweiterung geeignete Instrumente. Leider haben sich die Europäer zu nützlichen Idioten dieser Strategie machen lassen. Jetzt haben wir den Salat eines zutiefst verfeindeten und sich bekriegenden Europas, während sich die USA als lachender Dritter ins Fäustchen lachen und auf ihren geostrategischen Schwerpunkt, den Indo-Pazifik und die Auseinandersetzung mit China, konzentrieren können.

Mein Fazit aus dieser traurigen Geschichte: Ob Gorbatschow angesichts einer frühzeitig gegen ein „gemeinsames Haus Europa“ gerichteten Politik des „Westens“ ein „Anti-Putin“ geblieben wäre, scheint mir sehr unwahrscheinlich. So zynisch das angesichts des laufenden Krieges und der wachsenden Zahl an Toten auch klingen mag: Vielleicht ist Putin ja der Gorbatschow in aktueller Gestalt, der aus der systematisch feindlichen Haltung des Westens und NATO-Europas gegenüber Russland gelernt und die Konsequenzen gezogen hat.

*Siehe dazu: https://taz.de/!5315226/ und https://monde-diplomatique.de/artikel/!5533608.

**Siehe dazu mein Beitrag „Nachtrag zu meiner Buchempfehlung in ‚Baerbock …’/2.9.22“/3.9.22.