Putin-Rede: Ist da was dran?

Ergänzung 24.2.22: Der unten stehende Beitrag ist am 23.2.22 geschrieben worden. Die in ihm angesprochene Deeskalationsstrategie  dürfte für einen längeren Zeitraum mit den Ereignissen des heutigen Tages (24.2.22: Invasion Russlands in die Ukraine) wohl gescheitert sein.

Neben den Geschichtsverdrehungen scheint es mir auch einige bedenkenswerte Argumente in der Rede zu geben. Beispiele:

Tatsächlich ist ein einheitliches Staatsgebilde Ukraine ein Produkt der Sowjetunion*. Vorher war das Gebiet Ukraine (keine Nation!) die längste Zeit ein Teil das russischen Zarenreichs und Polens, ohne jemals staatliche Selbständigkeit erreicht zu haben. Nationalistische Tendenzen mit dem Ziel einer eigenen Staatlichkeit kommen vorher – erfolglos – im Gebiet der Ukraine erst im 19. Jahrhundert auf. Der in der Ukraine kultivierte Mythos, die gegenwärtige Ukraine sei eine Fortsetzung des Reichs der Rus, ist schiere nationalistische Spinnerei der heutigen Ukraine.

Interessant und nachprüfenswert sind Putins Äußerungen in seiner Rede zur aktuellen inneren Verfasstheit der Ukraine:

Zivil: Korruption, Neoliberalisierung, Dominanz der Oligarchen, Kleptokratie der Elite, fortschreitender wirtschaftlicher Niedergang und zunehmende Verarmung der Bevölkerung, massive Emigration, wirtschaftliche „Entwicklung“ in den Fängen westlicher Banken und Berater“: Das erinnert übrigens stark an die Jelzin-Periode Russlands**. Hinzu komme laut Putin eine systematische Diskriminierung und Unterdrückung russisch sprachiger Teile der Bevölkerung.

Militärisch: Schon bestehende verdeckte Kooperation mit der NATO, massive Aufrüstung durch die USA und Ausstattung der Ukraine mit Angriffswaffen (Raketen). Damit würde die Ukraine bei den dort dominierenden nationalistischen und antirussischen Tendenzen der ukrainischen herrschenden Eliten tatsächlich eine Bedrohung der Sicherheit Russlands darstellen.

Wenn diese Putinschen Behauptungen stimmen – und Putin dürfte genaue Informationen über innere Verfasstheit der Ukraine haben – ist das Begehren Russlands nach einer Neutralisierung der Ukraine (Entmilitarisierung, kein NATO-Beitritt) in der Sache nachvollziehbar, und der „Westen“ solidarisiert sich mit einem Land und Staat in fortschreitendem wirtschaftlichen und politischen Niedergang.

Zum Schluss noch ein Wort zum Völkerrecht***.

Natürlich sind die russischen Aktivitäten (bisher: Anerkennung der ostukrainischen Volksrepubliken) ein Völkerrechtsbruch. Mensch sollte allerdings nicht mit zweierlei Maß messen. Wenn ich die Kette der – nicht sanktionierten – Völkerrechtsbrüche der USA aufzählen wollte, würde eine lange Liste zustande kommen. Auch die Bundesrepublik war an der völkerrechtswidrigen Intervention in Jugoslawien beteiligt****. Diese militärische Intervention war tatsächlich der erste „westliche“ Krieg in Europa nach dem 2. Weltkrieg. Ich betone „westlich“, weil die sowjetischen militätischen Interventionen in Ungarn (1956) und der Tschecholowakei (1968) schon voraus gegangen waren.

Auch die ja kürzlich mit einem Fiasko beendete Intervention in Afghanistan – wieder unter der Beteiligung der Bundesrepublik – war streng genommen völkerrechtswidrig*****.

Wie also weiter? Um die aktuelle Krise zu deeskalieren, halte ich die Position von Sahra Wagenknecht für die vernünftigste: https://www.ndr.de/nachrichten/info/Sahra-Wagenknecht-Mit-Russland-reden,audio1073346.html. Siehe dazu auch mein Beitrag: „Ukraine-Krise: Konfliktanheizung oder Deeskalation?“/7.2.22.

*Siehe dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Ukraine.

**Siehe zu Jelzin: https://de.wikipedia.org/wiki/Boris_Nikolajewitsch_Jelzin.

***Siehe zur Verbindlichkeit des Völkerrechts: https://www.zeit.de/politik/ausland/2014-04/voelkerrecht-un-sicherheitsrat und https://www.mpil.de/files/pdf4/MOSER_Vortrag_Themenkonzert_1322015.pdf.

****Zur Völkerrechtswidrigkeit des Kosovo-Krieges: https://taz.de/Zehn-Jahre-Kosovokrieg/!5165840/.

*****Zur Völkerrechtswidrigkeit der Afghanistan-Intervention: https://verfassungsblog.de/wer-schuetzt/.