Putin-Rede: Nationalistische Geschichtsverdrehungen
In seiner Rede argumentiert Putin als Vertreter des russischen Super-Nationalstaats, aber eben auch – leider – als russischer Nationalist. Ein Problem solcher nationalistischer Positionen besteht darin, dass sie im Rahmen des die eigenen Nation glorifizierenden Geschichtsnarrativs zu Geschichtsverdrehungen* tendieren. Derartige Geschichtsverdrehungen finden sich aus meiner Sicht auch in der Rede.
Beispiele 1: Putin spricht vom Russland erniedrigenden Frieden von Brest-Litowsk, den die Bolschewiki zu verantworten gehabt hätten. Was soll an diesem Friedensschluss falsch gewesen sein? Tatsächlich war dieser Frieden unumgänglich, weil Russland den Krieg faktisch verloren hatte und sich die russische Armee in voller Auflösung befand. Da sich die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution an der Macht befanden, konnten nur sie diesen Frieden schließen – und haben ihn richtigerweise geschlossen, um weiteres sinnloses Blutvergießen zu beenden.
Der von Putin beschworenen „erniedrigende“ Charakter dieses Friedens hing schlicht damit zusammen, dass das zaristische Russland der Verlierer des Krieges war und die Arbeiter- und Bauernsoldaten es nicht mehr hinnehmen wollten, sich abschlachten zu lassen.
Beispiel 2: Putin spricht davon, dass die bolschewistische Politik des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ und der damit zusammen hängenden Autonomisierung der Sowjetrepubliken und deren Austrittsrecht aus der UdSSR (Verfassung der Union der Sowjetrepubliken von 1924: https://de.wikipedia.org/wiki/Sowjetische_Verfassung_von_1924 , Kapitel 2/4/Quelle untet Weblinks) – auch der Ukraine – nur auf Lenin und das Machterhaltsstreben der Bolschwiki zurückzuführen gewesen sei.
Was soll am Selbstbestimmungsrecht falsch gewesen sein? Abgesehen davon, dass diese Recht auch schon vor der Oktoberrevolution zu den Programmpunkten der Bolschewiki gehörte**, richtete sich dessen Umsetzung einschließlich der Autonomisierung der Ukraine gegen einen verhassten zaristischen Imperialismus. Darüber hinaus war die Politik des Selbstbestimmungsrechts international die Basis für die globale Unterstützung des antikolonialen Kampfes der ja noch weltweit existierenden Kolonien.
Die Putinschen Geschichtsverdrehungen ändern allerdings nichts daran, dass die aktuelle nationalistische russische Politik – auch die Anerkennung der ostukrainischen Volksrepubliken – wie ich oben geschrieben habe: „nicht global, sondern politisch räumlich begrenzt, defensiv und konsolidierend“ ist.
Was vollkommen an der Situation vorbeigeht und den Sinn der Putin Rede verfälscht, ist die Unterstellung einer von Putin angestrebten russischen Expansionspolitik (Imperialismus). Die hat es auch unter Stalin nicht gegeben. Der Ostblock und der sog. Kalte Krieg war ein Ergebnis von Jalta und der nach dem Tod Roosevelts gegenüber der Sowjetunion wieder verschärften Konfrontationspolitik der USA (Truman!)***.
*Solche Geschichtsverdrehungen finden sich aber auch im offiziellen Geschichtsnarrativ der USA („Immer für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte“: In Wirklichkeit Liquidierung der indianischen Stämme, Rassismus, beste Verbindungen zu „befreundeten“ autoritären Systemen, wenn es den Wirtschaftsinteressen der USA entspricht, und offene und verdeckte Interventionen, wenn die Durchsetzung eigener Wirtschaftsinteressen gefährdet scheint) und Chinas (letztes eher skurriles Beispiel die chinesische Behauptung der Entdeckung des Skifahrens durch die Chinesen).
**Siehe dazu: https://archiv.ossietzky.net/20-2017&textfile=4116.
***Siehe dazu: David Horowitz: Kalter Krieg/Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam, Berlin 1969