Ist Putins Russland „faschistisch“*?

Vor kurzem wollte mir jemand – einer, der sich zu den Linken zählt – verklickern, Russland sei faschistisch. Ist da was dran? Meinerseits ein klares Nein. Warum?

Weil der Terminus „Faschismus“ besonders gern im „linken“ Spektrum als eine Art Gummibegriff benutzt wird. Methode: Mensch nehme bei der Bezeichnung der Regimeform eines Landes ein paar Eigenschaften, die dem originären Faschismus oder Nationalsozialmus entfernt ähneln (z.B. autoritärer Führungsstil, starke und mächtige zentrale Führungspersönlichkeit mit eigenem informellen Netzwerk, Einschränkung der Pressefreiheit, Unterdrückung oppositioneller politischer Spektren, womöglich aggressive, u.U. kriegerische Außenpolitik), fasse sie unter dem Kampfbegriff „Faschismus“ zusammen, und schon kann das Land als faschistisch qualifiziert werden.

Nachteil dieser Methode: Erkenntnisgewinn gleich null!** Bei genauerem Hinsehen können absurderweise bei Anwendung der Methode die Faschismen in dieser Welt nach Belieben vermehrt werden (oder lassen sich vermehren): Neben dem russischen Faschismus wäre es ohne weiteres möglich, bei Bedarf einen islamischen Faschismus (fast alle arabischen und nordafrikanischen Länder + Mulla-Iran + Türkei), einen „kommunistischen“ Faschismus in China und Nordkorea, einen Afro-Faschismus in vielen afrikanischen Ländern etc. etc. aus dem Hut zu zaubern – nach Belieben. Die Welt begänne plötzlich, von „Faschismen“ zu wimmeln.

Vorteil der Methode: Da „Faschismus“ extrem negativ konnotiert ist, kann mit dem Kampfbegriff eine klare und einfache Freund-Feind-Polarisierung erreicht werden. Die mit dem Kampfbegriff Faschismus bedachten Länder sind dann für solche „Linken“ selbstverständlich Feinde, und der Kampf gegen sie (u.U. auch mit militärischen Mitteln, um die unterstellte Aggressivität zu unterbinden und die unterdrückte Bevölkerung zu „befreien“) immer moralisch legitim, weil mensch ja gegen das „Böse“ die guten Werte „Freiheit“, „Demokratie“ und „Menschenrechte“ vertritt.

Mein Fazit: Der Kampfbegriff „Faschismus“ ist grundsätzlich ungeeignet, die realen Phänomene, die mit ihm erfasst werden sollen, zu verstehen (und war dies im Übrigen auch schon in der Vergangenheit). Er ist deshalb auch ungeeignet, darauf eine Politik aufzubauen, die in der Lage wäre, die – zu Recht inkriminierten – negativen Eigenschaften eines Regimes zu bekämpfen.

In Bezug auf Russland und den Ukraine-Krieg halte ich es aus vier Gründen für schlichten Unsinn und politisch fatal, von einem russischen Faschismus zu sprechen:

– Erstens, weil durch die Dämonisierung Russlands und speziell Putins die mit verursachende Rolle der NATO am Krieg (NATO-Erweiterung, keine klare Position gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine vor dem Krieg***) verdrängt wird,
– zweitens, weil so das politische System Russlands**** und die trotz Krieg relativ breite Unterstützung dieses Systems in der russischen Bevölkerung nicht verstanden wird,
– drittens, weil der Kampfbegriff nahe legt, einen möglichen Krieg der NATO gegen Russland – und so fern und ausgeschlossen ist der leider nicht – unter der Flagge der Befreiung Russland vom Faschismus und den Werten „Freiheit“, „Demokratie“ und „Menschenrechte“ zu rechtfertigen und zu unterstützen*****,
– und viertens,.weil eine der Folgen – und nicht die unwesentlichste – die Stärkung, nicht Schwächung des aktuellen politischen Regimes Russlands durch die Politik der NATO ist.

*Siehe dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Faschismus.

**Zum fehlenden Erkenntnisgewinn und damit verbundenen politischen Fehlern in der Vergangenheit aus marxistischer Sicht: Nicos Poulantzas, Faschismus und Diktatur/Die Kommunistische Internationale und der Faschismus, München 1973.

***In diesem Zusammenhang empfehle ich den instruktiven Film „Thirteen Days“ zur Kuba-Krise 1962 (https://de.wikipedia.org/wiki/Thirteen_Days_(2000)). Ich verweise auf diesen Film, weil eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine für Russland ein Äquivalent der (glücklicherweise zurück gezogenen) sowjetischen Raketenstatiionierung auf Kuba wäre.

****Siehe dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Politisches_System_Russlands.

*****Bekanntlich ist die völkerrechtswidrige Beteiligung Deutschlands am NATO-Krieg gegen Serbien 1999 (https://taz.de/Zehn-Jahre-Kosovokrieg/!5165840/) auch durch die Herren Joschka Fischer (Außenminister, Grüne) und Rudolf Scharping (Verteidigungsminister, SPD) als Kampf gegen den serbischen Faschismus gerechtfertigt worden.