Erinnerung – nur ein Ritual?

Die Verlegung der Stolpersteine in Witten ist vor allem deshalb ein begrüßenswertes Projekt, weil die Steine zeigen, wie tief die terroristische Verfolgung und Vernichtung der politischen Gegner, die Judenverfolgung und der Holocaust in den Alltag unserer Stadt während der Naziherrschaft eingedrungen waren. Das Schreckliche hat sich sozusagen in der Nachbarschaft abgespielt.

Allerdings hat die Erinnerung an den Terror nach 1933 durch die Steine ihre Grenzen, weil sie auf das Unmittelbare fixiert ist. Auch für das Schreckliche gilt: Nichts ohn‘ Ursach. Über die Betroffenheit hinaus wird die Erinnerung erst fruchtbar, wenn eine Antwort auf die Frage gesucht wird, wie es denn dazu kommen konnte. Sonst erstarrt die Erinnerung im Ritual.

Der Nazi-Terror ist nicht schicksalhaft über Deutschland hereingebrochen, sondern hatte seine Wurzeln in gesellschaftlichen Strukturen und gesellschaftlich-politischen Konjunkturen der Zeit vor 1933. In dieser Zeit sind die Entscheidungen gefallen, die zur Nazi-Herrschaft führten, und in dieser Zeit hätte die Nazi-Herrschaft auch verhindert werden können.

Das gilt nicht nur für die gesellschaftlichen Kräfte, die Hitler zur Macht verhalfen und später selbst in den Untergang hineingerissen wurden, sondern auch – mensch muss es einmal offen sagen – für die späteren politischen Opfer, die durch gravierende politische Fehlentscheidungen zum Erfolg der Nazis mit beigetragen haben (s.u. Literaturangaben).

Ich stelle hier – auch zur Erinnerung – zwei mittlerweile ca. 27 Jahre zurückliegende Texte (aus 1987) vor, die die Ursachen gerade auch in Hinblick auf gegenwärtige Gefahren (Neonazismus, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus) und damit den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart – mehr oder weniger gelungen – aufhellen wollten.

→ Text aus dem links-autonomen Spektrum (1987): Einschätzung der Hintergründe des wieder anwachsenden Neofaschismus Einschätzung der Hintergünde des Faschismus

→ Meine Reaktion darauf (1987): Anmerkungen zum Papier Einschätzung …

Worum es mir geht, soll ein Adorno-Zitat deutlich machen:

„Jener Satz aus den Anfangserwägungen der Hegelschen Logik, es gebe nichts in der Welt, das nicht ebenso vermittelt wie unmittelbar sei, überdauert nirgendwo präziser als in den Fakten, auf welche die Geschichtsschreibung pocht. Wohl wäre es töricht, mit erkenntniskritischer Finesse weg zu disputieren, dass, wenn unterm Hitlerschen Faschismus bei einem Abweichenden um sechs Uhr morgens die Staatspolizei läutet, das unmittelbarer zu dem Individuum ist, dem es widerfährt, als die vorausgehenden Machinationen der Macht und die Installierung des Parteiapparats in allen Zweigen der Verwaltung, oder gar als die historische Tendenz, welche ihrerseits die Kontinuität der Weimarer Republik aufsprengte, und die anders nicht als in begrifflichem Zusammenhang, verbindlich erst in entfalteter Theorie sich offenbart. Dennoch hängt das factum brutum des behördlichen Überfalls, mit dem der Faschismus dem Einzelnen auf den Leib rückt, von all jenen fürs Opfer entfernteren und im Augenblick gleichgültigen Momenten ab.“ (Negative Dialektik, S. 293/94).

Leider ist in den zurückliegenden Jahren die von Adorno angemahnte Theorie in den Hintergrund geraten. Es wäre aus meiner Sicht gut, wenn in Zusammenhang mit der Wiederbelebung der Erinnerung durch das Stolperstein-Projekt auch die Arbeit an der Theorie: der Interpretation und Einordnung der unmittelbaren Ereignisse wiederbelebt würde.

Bezogen auf meinen Text würde ich heute einiges anders bewerten: Vor allem die Funktion stabiler demokratischer Institutionen und den Spielraum der Politik. Andererseits: Wie stabil ein demokratisches System in einer wirklichen Krise sein würde, scheint mir noch vollkommen offen.

Zur Problematik der politischen Verantwortung der späteren Opfer:

Leo Trotzki: Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?, Frankfurt am Main 1971

Nicos Poulantzas: Faschismus und Diktatur/Die Kommunistische Internationale und der Faschismus, München 1973

Zu einer anderen Sichtweise faschistischer Dispositionen:

Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt 1977

Zum Problem des tendenziellen Falls der Profitrate, der Profitmasse und der Gegentendenzen – auch als Motiv wachsender internationaler und nationaler Verteilungskämpfe (einschließlich von Verteilungskonflikten zwischen Staatsausgaben und privater Kapitalakkumulation) – in einem kapitalistischen System (meine Reaktion: s.o.) immer noch instruktiv:

Henryk Grossmann: Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Frankfurt 1967, Erstveröffentlichung 1929 (Das Buch rekonstruiert nicht eine Theorie des „Zusammenbruchs“ im Sinne eines großen „Kladderadatsch“, sondern eine Theorie sich verschärfender Krisen!)